Anton Bruckner »Piano Works«
Bruckner am Klavier – oder: Wie man einen Kathedralenbauer beim Stricken erwischt
Man stelle sich Anton Bruckner vor, diesen sanften Riesen unter den Komponisten, wie er – statt einer gewaltigen Orgel oder eines schnaubenden Orchesters – auf einmal vor einem Klavier sitzt. Das Bild allein hat schon etwas Rührendes. Kein Crescendo der Hörner, keine Posaunen, die von Weltuntergang oder Welterlösung künden. Nur Holz, Lack, Filz, Hammerchen und Saiten. Ein bisschen so, als würde ein Dom in einen Setzkasten gepresst – und sich dort erstaunlich wohlfühlen.
Mari Kodama hat uns mit ihrem Album dieses Bild geschenkt. Sie hat Bruckners seltene Klavierwerke hervorgekramt, entstaubt, aufpoliert und aufgenommen – Stücke, die man so gut wie nie hört. Werke, die er zwischen 1850 und 1868 schrieb, vermutlich für Schülerinnen mit ordentlich geflochtenen Zöpfen, die den Meister höflich „Herr Lehrer“ nannten. Es sind keine Monumente aus Klang und Stein, keine musikalischen Kathedralen. Es sind Skizzen. Poetische Notizen. Zarte Gedanken, die noch nicht wissen, dass sie irgendwann einmal Sinfonien werden wollen.
Und was hören wir da? In der Fantasie in G-Dur blitzen sie schon auf, diese melodischen Saatkörner, die später zu ganzen Sinfonien auswachsen werden. Wie ein Gänseblümchen, das sich versehentlich im Schatten eines gotischen Portals ausgesät hat. Dann die Lanzenreiter-Quadrille – der Titel klingt nach Tanztee bei Karl May, und tatsächlich tänzelt das Stück, fast als hätte Bruckner kurz vergessen, dass er aus Oberösterreich kommt, und sich vorgestellt, er sei Pariser Gesellschaftskomponist. Und die Stille Betrachtung an einem Herbstabend – schon der Titel klingt wie ein Postkartentext aus einer besseren Welt. Ein Hauch Mendelssohn, eine Spur Chopin, und irgendwo in den Zwischentönen ein Bruckner, der vermutlich gerade in den Himmel blinzelt und sich fragt, ob er heute Abend wohl wieder in der Kirche eingeschlossen wird, weil er das Üben vergessen hat.
Diese Stücke sind kurz. Zwei, drei Minuten, manchmal weniger. Man könnte beim Hören einen Kaffee umrühren, einen Keks anknabbern und wäre trotzdem rechtzeitig zurück, bevor die Melodie ihr Ende gefunden hat. Aber unterschätzen sollte man sie nicht. Diese Miniaturen zeigen Bruckner von einer Seite, die man nicht kennt: humorvoll, spielerisch, fast leichtfüßig. Es ist, als würde ein Mann, der sein Leben lang gotische Türme gebaut hat, plötzlich kleine Origami-Kraniche falten.
Mari Kodama spielt diese Miniaturen mit einem Fingerspitzengefühl, das den feinen Unterschied zwischen Ehrfurcht und Fesseln kennt. Wo die Noten lückenhaft sind – und das sind sie oft –, springt ihre Fantasie ein, ohne sich aufzudrängen. Sie phrasiert, schwebt, atmet – und gibt den kleinen Stücken damit gerade die Größe, die sie brauchen.
Dass sie im Studio spielte – auf einem Yamaha CFX Grand, dessen Töne so klar sind wie frisch gespültes Kristallglas – verleiht dem Ganzen eine fast klinische Präzision. Aber keine Angst: Es klingt nicht nach Zahnarztpraxis, sondern nach einem Raum, in dem man jedes Räuspern des Pedals und jedes Nachschwingen der Saiten hören kann.
Und das Schönste: Man hört die großen Sinfonien nach diesem Album anders. Man hört die monumentalen Bruckner-Werke, und irgendwo im Fortissimo glaubt man, ein fernes Echo dieser kleinen Klaviergedanken zu hören. Man denkt an die Miniatur, während der Dom erbebt.
Wer sich bisher fragte, ob Bruckner auch anders kann, als Himmelsportale in Notenform zu erschaffen: Ja, er kann. Er kann Miniatur. Er kann Augenzwinkern. Er kann sogar einen Herbstabend in eine „stille Betrachtung“ verwandeln, die nach drei Minuten endet, aber noch lange nachhallt – wie das Lächeln eines Lehrers, der nicht immer nur Kathedralen im Kopf hatte.
Komponist: Anton Bruckner
Titel: Piano Works
Interpret: Mari Kodama
Erschienen bei: Pentatone