Liszt »Sonata in B Minor«

Arnaldo Cohen spielt Liszt – oder: Wie man 31 Minuten Chromatik überlebt, ohne durchzudrehen

Die Klaviersonate in h-Moll von Franz Liszt hat ungefähr denselben Ruf wie das Mount Everest Base Camp nach einer durchregneten Woche: majestätisch, unbarmherzig und gelegentlich von Euphorikern bewohnt. Sie dauert etwa eine halbe Stunde – was an sich harmlos klingt, wäre da nicht die Tatsache, dass man die ganze Zeit mit 88 Tasten in ständigem Ausnahmezustand zu tun hat.

In dieser Aufnahme von Arnaldo Cohen wird das nicht besser. Sondern grandioser.

Cohen spielt die Sonate nicht, er durchdenkt sie, er durchfühlt sie, und – das ist entscheidend – er hat offenbar beschlossen, nicht wie so viele andere dabei unterzugehen. Keine falsche Größe, kein gespreizter Tiefsinn, keine »ich bin Liszt und ihr seid nichts«-Attitüde. Stattdessen: ein pianistischer Großmeister, der dem Werk zuhört, sich klug durch die Struktur bewegt und trotzdem keine einzige Gelegenheit für einen elegant gezielten Donner verpasst.

Aber halt – es gibt noch mehr!

Wer meint, dass eine 31-minütige Sonate allein genügen würde, um eine CD zu füllen, wird hier eines Besseren belehrt. Auf dieser Scheibe gibt’s gleich noch drei Schwergewichte dazu, die allesamt klingen, als hätte Liszt beschlossen, das Klavier sei ein sehr empfindsamer Vulkan mit Bildung.

  • Funérailles: Natürlich. Der musikalische Trauerzug mit militärischem Einschlag. Arnaldo Cohen schafft es, dabei dunkel zu klingen, aber nie müde. Das Stück schreitet majestätisch durch die Ruinen des 19. Jahrhunderts, mit einer Noblesse, als würde Chopin den Deckel auf den Revolutionsgeist setzen – in schwerem Mantel und mit klarem Blick.

  • Rhapsodie espagnole: Ein völlig anderes Kaliber. Das Stück beginnt wie ein Zirkuspferd mit spanischer Fahne und will dann ganz plötzlich Weltmeister im rhythmischen Dressurreiten werden. Cohens Spiel hat Schwung, Witz und Übersicht – besonders wichtig, da Liszt hier bei der Variationstechnik gelegentlich vergisst, dass Übergänge etwas mit Zusammenhang zu tun haben. Cohen vergisst das nicht.

  • Vallée d’Obermann: 14 Minuten romantische Seelenwanderung. Kein Stück für Eilige oder Menschen mit WhatsApp-Tinnitus. Cohen nimmt sich die Zeit, die innere Bewegung dieses Werkes zu gestalten – ohne je ins schwärmerisch Süßliche abzurutschen. Ein pianistischer Spaziergang in den Schweizer Alpen – aber ohne Bergsteigerhysterie.

Zurück zur Sonate

Die berühmte h-Moll-Sonate, dieses Monument für alle, die sich pianistisch mal so richtig aus dem Fenster lehnen wollen, lebt in Cohens Händen von einem ständigen Wechselspiel: Spannung und Entspannung, Kraft und Kontrolle, architektonische Klarheit und freier Atem.

Er trifft nicht nur alle Töne (was bei Liszt keine Selbstverständlichkeit ist), sondern auch deren inneren Zusammenhang. Die Fugenstruktur sitzt, die Oktaven donnern, und in den leisen Momenten wird nicht geziert, sondern gelauscht. Besonders schön: Cohen erlaubt sich Momente der Verlangsamung, ohne je die Linie zu verlieren. Kein Selbstzweck, sondern musikalischer Atem.

Die Aufnahmequalität? Großartig. Transparent, raumfüllend, dabei nie steril. Das Klavier klingt wie ein Konzertflügel und nicht wie ein trauriger Computermonitor mit Tasten.

Fazit

Diese CD ist kein Klavierfeuerwerk für Egos, sondern ein intelligenter, hochmusikalischer Dialog zwischen Komponist und Interpret. Arnaldo Cohen gelingt, was vielen bei Liszt misslingt: Er macht Musik. Nicht Show, nicht Sport, sondern einen großen inneren Bogen, getragen von Virtuosität, ja – aber vor allem von Verstand, Empathie und klanglicher Intuition.

Wer das Stück kennt, wird es neu hören.
Wer es noch nie gehört hat, wird verstehen, warum es einen Ruf wie Donnerhall hat.
Und wer nur mal wieder Lust auf richtig gutes Klavierspiel hat – sollte hier dringend reinhören.


Komponist: Franz Liszt

Titel: Sonata in B Minor / Rhapsodie Espagnole

Solist: Arnaldo Cohen

Erschienen bei: BIS


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