Rachmaninov »Vespers«

Rachmaninows »Vespers« – wenn Cambridge sich an russischer Inbrunst versucht

Rachmaninows »Vespers« gelten als Gipfelpunkt orthodoxer Chorkunst – monumental, erdig, von russischer Seele durchtränkt wie ein ikonengeschmückter Klangdom. Und dann kommt der Choir of King’s College, Cambridge daher, mit britischem Understatement und einem Klangbild so makellos, dass man sich fragt, ob die Queen persönlich zur Abnahme vorbeigeschaut hat. Keine düster glühende Mystik, sondern ein filigran gezeichneter Sakralraum aus Stimmen, der Rachmaninows Musik ein ganz neues Gesicht verleiht – gewissermaßen ein Treffen zwischen Tolstoi und Jane Austen in einer klanglichen Bibliothek.

Anglikanische Präzision trifft russische Schwere

Der Chor von King’s College gilt seit jeher als institutionalisierte Perfektion. Ein Klang, so makellos, dass selbst eine frisch polierte Kirchenbank daneben wie grobes Handwerk wirkt. Doch bei Rachmaninows tief erdverbundenem Werk stellt sich die Frage: Kann englische Exaktheit den slawischen Schmerz glaubhaft vermitteln?

Die Antwort ist: Ja – aber mit einer gewissen britischen Contenance. Wo russische Chöre sich in ein abgrundtiefes, orthodoxes Pathos stürzen, das einen emotional mit der Wucht eines Dostojewski-Romans trifft, bewahren die Cantabrigianer stets eine gewisse Haltung. Sie stolpern nicht ins Gefühl, sie betreten es mit Bedacht – als hätten sie zuvor noch eine Teestunde mit Rachmaninow abgehalten und sich über das rechte Maß der Melancholie verständigt.

Musikalische Qualität: Mit Oxfordhemd in die Ikonenhalle

Die stimmliche Balance ist beeindruckend. Die jungen Sänger schichten die Akkorde so fein wie russisches Blätterteiggebäck, und tatsächlich gelingt ihnen die Quadratur des Kreises: tiefste Bässe, die ins Fundament der Komposition greifen, werden begleitet von schwebenden Sopranlinien, die sich über den Hörer legen wie ein wohliges Kaschmirtuch. Besonders in den Passagen, in denen das Werk seine ikonische klangliche Monumentalität erreicht, zeigt sich, dass dieser Chor nicht nur eine wohltemperierte Gesangsausbildung, sondern auch eine solide Vorstellung von Ehrfurcht besitzt.

Ob das alles wirklich so klingt, wie es Rachmaninow in seinem Innersten gefühlt haben mag, als er 1915 die Noten zu Papier brachte, sei dahingestellt. Aber eines ist sicher: Es ist eine faszinierende Annäherung aus einer Perspektive, die dem Werk eine neue, beinahe liturgisch durchgelüftete Dimension verleiht.

Aufnahmetechnische Qualität: Cambridge als Kathedrale

Die Aufnahme selbst wurde in der berühmten King’s College Chapel gemacht, einem architektonischen Wunder, das akustisch so viel Nachhall bietet, dass man theoretisch eine einzelne Note anschlagen und drei Wochen später noch nachhören könnte, wie sie sich im Raum verliert. Hier entsteht eine Klangfülle, die fast sphärisch wirkt – ein wenig so, als hätte jemand den Hall eines russischen Klosters mit englischem Wetter verschnitten.

Man könnte nun bemängeln, dass eine Aufnahme in einer Petersburger Kathedrale vielleicht noch ein Quäntchen mehr orthodoxe Gravitas verliehen hätte. Aber da stellt sich die Frage: Braucht man die klangliche Muffigkeit von 400 Jahren russischer Geschichte, wenn man stattdessen britische Eleganz haben kann? Die Antwort ist rein pragmatisch: In dieser Aufnahme wird nichts verschluckt, nichts überlagert, nichts in dumpfem Mauerwerk erstickt. Jeder klangliche Aspekt, sei er noch so fein, tritt präzise in Erscheinung.

Fazit: Dostojewski mit einem Hauch von Teegebäck

Die Interpretation des Choir of King’s College, Cambridge, wird womöglich keinen grimmigen Babuschka-Chor in Ekstase versetzen, aber sie bietet eine fast akademisch-meditative Perspektive auf ein Werk, das sonst gerne mit maximaler russischer Wucht serviert wird. Man kann das als noblen Ansatz empfinden oder als unverschämt britischen Diebstahl an der Seele der slawischen Musik – es bleibt eine faszinierende Version.

Wer sich also traut, die Vespern mit einer Spur Cambridge-Blau zu hören, könnte an dieser Aufnahme großen Gefallen finden. Sie ist wuchtig, aber nicht überladen, innig, aber nicht pathetisch, und technisch wie musikalisch ein Hochgenuss. Und damit stellt sich am Ende nur noch eine Frage: Würde Sergei Rachmaninow, hätte er diese Aufnahme gehört, seine Tasse Tee beiseitegestellt und gesagt: »Ja, das ist es, genau so habe ich es mir vorgestellt«?

Vielleicht nicht. Aber er hätte es sicher respektvoll genickt und für einen Moment erwogen, doch mal eine Tasse Tee zu probieren.


Komponist: Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow

Titel: Vespers, Op. 37

Dirigent: Stephen Cleobury

Chor: Choir of King’s College, Cambridge

Erschienen bei: Warner Classics


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