Miles Davis »Kind of Blue«
Kind of Blue – oder: Wie man Weltgeschichte macht, indem man einfach mal nichts aufschreibt
Ein Jazzalbum, das in einem ehemaligen Kirchenschiff aufgenommen wurde, das sich im New Yorker Columbia-Studio 30 befand, das wiederum – ganz irdisch – nach Tonbändern roch und nicht nach Weihrauch, ist vielleicht der passendste Ort für ein Werk, das vielen als musikalisches Evangelium gilt, ohne auch nur eine einzige Silbe zu singen. Kind of Blue, 1959 erschienen, ist keine Platte. Es ist ein Zustand.
Miles Davis hat mit diesem Album nichts weniger als eine musikalische Weltformel formuliert – und dann weggelassen, sie aufzuschreiben. Denn während andere Komponisten ihre Werke in Tintenflüssigkeit tränkten, bevorzugte Davis das lose Zettelwesen. Kein Notenmaterial, keine Partitur, kein Dirigat. Dafür ein paar kryptische Skalen, gelegentlich ein Flüstern und ein Blick, der möglicherweise etwas bedeutete.
Und siehe da: Es wurde ein Meisterwerk.
Modaler Jazz oder: Zwei Akkorde reichen doch völlig
Statt wie beim Bebop die Harmonien wie Cocktailkirschen durch die Gegend zu werfen, rief Davis mit Kind of Blue die Ära der modalen Improvisation aus. Nicht mehr Akkordwechsel im Sekundentakt, sondern Skalen. Zwei bei So What, fünf bei Flamenco Sketches. Musiker wie John Coltrane, Cannonball Adderley, Bill Evans – normalerweise keine Freunde der gepflegten Zurückhaltung – mussten plötzlich innehalten. Geduld, das neue Paradigma. Hinhören, der neue Heroismus.
Dass vier der fünf Stücke als Erstaufnahmen durchgingen, ist weniger ein Zeichen von Genialität als von Not. Niemand wusste, wann die Stücke enden. Miles schon gar nicht. Er ließ sie enden. Oder ließ es geschehen. Man war gezwungen, auf den Bauch zu hören – was in diesem Fall ausnahmsweise zu einer Weltkarriere führte.
Besser spät als korrekt: Die Viertelton-Verschwörung
Ein kleiner Schönheitsfehler, der das Album 33 Jahre lang zierte, war die leicht beschleunigte Masterbandmaschine, die dafür sorgte, dass Freddie Freeloader, So What und Blue in Green einen Viertelton zu hoch erklangen. Manch einer fand das charmant. Andere sagten, es klinge wie Jazz im Halbschlaf mit zu engen Hosen. Erst 1992, also lange nach sämtlichen Grammy-Feierlichkeiten, wurde dieser analoge Schluckauf korrigiert.
Ob das besser war, ist eine Frage der Philosophie. Quincy Jones jedenfalls trank sein Glas Kind of Blue schon vorher täglich – als klanggewordenen Orangensaft. Und Donald Fagen nutzte das Album angeblich für Tätigkeiten, die weniger mit Frühstück zu tun haben.
Wenn Genie sich verteilt
Davis war zwar die zentrale Sonne des Projekts, aber seine Mitspieler waren alles andere als Monde. Bill Evans, einziger Weißer im Sextett und musikalischer Innenarchitekt, lieferte mit seinem Peace Piece das melodische Rohmaterial für Flamenco Sketches. Paul Chambers, der stoische Bassist, ließ die Zeit in All Blues verfließen, ohne dass man je auf die Uhr sehen wollte. Jimmy Cobb, heute der letzte lebende Mitwirkende, erinnerte sich später: „Wir hatten keine Ahnung, was wir da taten.“ Das erklärt vieles – aber eben nicht, warum es so gut wurde.
Coltrane und Adderley zügelten sich, als hätte ihnen jemand vorher das Saxophon in Watte eingewickelt. Und Miles selbst? Blies. Und schwieg. Und blies wieder. Als wäre der Ton das Wichtigste auf der Welt – und gleichzeitig das Selbstverständlichste.
Ein Jazzalbum, das sich weigert, Jazzalbum zu sein
Kind of Blue hat keine Hooklines. Keine Refrains. Keine Worte. Keine Dramaturgie im klassischen Sinn. Und doch ist es ein Album, das man kennt, selbst wenn man es nicht kennt. Die Musik ist so offen, so atmend, so entschleunigt, dass sie überall anschlussfähig ist: bei Jazz-Fans, bei Pop-Hörern, bei Menschen mit Teppichläufern und bei solchen, die lieber auf Fliesen wohnen. Bei denen, die Musik analysieren – und bei denen, die sie einfach laufen lassen, während sie die Spülmaschine ausräumen.
Das Album spricht nicht nur mit der Jazzwelt. Es spricht mit Afrika. Mit Armenien. Mit der japanischen Tuschmalerei. Mit dem Soul. Und mit der Stille. Kind of Blue war eine globale Playlist, bevor es Playlists überhaupt gab.
Fazit: Wie ein guter Satz, den man nicht mehr vergisst
Kind of Blue ist ein musikalisches Paradoxon. Ein Album, das aus der Intuition heraus entstand – und seither als Referenz für Struktur gilt. Eine Sammlung von Skizzen, die zu Monumenten wurden. Und eine Musik, die selbst dann lebendig bleibt, wenn sie in HiFi-Kreisen zum 700. Mal mit einer neuen Mastering-Methode wiedergeboren wird.
Es ist der Klang, der alles andere nicht mehr braucht. Und das ist – zumindest im Jazz – selten genug.
Titel: Kind of Blue
Interpret: Miles Davis
Erschienen bei: Columbia