Paganini »Complete Recordings«

Teufel, Technik, Taktgefühl – Paganini à la Accardo

Niccolò Paganini ist der einzige Komponist der Musikgeschichte, der sich seine eigene Legende so erfolgreich auf den Leib komponierte, dass selbst Goethe beeindruckt war. Und Goethe war schwer zu beeindrucken. Besonders, wenn jemand beim Konzert plötzlich eine Saite reißt, aber das Stück einfach auf den restlichen drei zu Ende spielt, als wäre das ein bewusstes Stilmittel. Paganini tat das regelmäßig. Und das Publikum war regelmäßig sprachlos.

Die Aufnahme mit Salvatore Accardo und dem London Philharmonic Orchestra unter Charles Dutoit zeigt nun, dass hinter all dem Spuk und Spektakel ein Komponist mit Substanz steckt. Denn Paganini, der Mann mit der fragwürdigen Ernährung, der Knochenkrankheit, dem Hang zu Glanzpapier und Spottgedichten, war eben nicht nur der „Teufelsgeiger“, sondern ein Meister des Klangs, des Witzes – und der kalkulierten Exzentrik.

Weniger Lebenslauf, mehr Rock’n’Roll

Geboren in Genua, aus einer Familie von Marktleuten mit Hang zur Strenge. Papa Antonio war ein eisenharter »Talentmanager«, der seinem Sohn das Geigenspiel aufdrückte wie andere das Latein. Es funktionierte: Niccolò war mit elf Jahren öffentlich auf der Bühne und spielte mit zwölf so virtuos, dass man ihn bereits für besessen hielt.

Später folgten die üblichen Stationen: Karriere, Ruhm, Skandale, Leberprobleme. Paganini war ein Publikumsmagnet – nicht nur wegen der Musik, sondern auch, weil er wie ein Wiedergänger aussah, langgliedrig, mit eingefallenen Wangen und pechschwarzen Haaren. Angeblich konnte er Geister beschwören. Oder zumindest Saiten zum Glühen bringen.

Der Staatsanwalt von Neapel wollte ihn 1828 öffentlich exorzieren lassen – wegen Teufelspakt-Verdacht. Paganinis Antwort: Er spielte einfach weiter. Und zwar immer besser.

Was ist nun auf dieser Box drauf?

Ganz einfach: Alles.
Oder, wie Paganini gesagt hätte: »Non abbastanza!« (Nicht genug!)
Sechs Violinkonzerte, jede Menge Fantasien, Rondeaus, Opernvariationen, Capricen, Sonaten, Showstücke. Es sind fünf Stunden Musik, verteilt auf sechs CDs – ein klingendes Kuriositätenkabinett mit Goldkante.

  • Konzert Nr. 1: In zwei Versionen erhalten – eine mit prunkvoller Orchestrierung, eine klassizistisch schlank. Accardo spielt’s mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, der weiß, dass der Applaus sowieso kommt.

  • Konzert Nr. 2 mit „La Campanella“: Der klingelnde Ohrwurm, der später Liszt inspirierte, klingt bei Accardo charmant und hochvirtuos, aber nie als wäre das Publikum gemeint, das sich gleich von den Sitzen erheben muss.

  • Konzert Nr. 5 & die „Maestosa Sonata Sentimentale“: Ein Spätwerk Paganinis, voller Melancholie, aber nicht sentimental. Kein Wunder: Er war da schon körperlich angeschlagen, aber musikalisch noch hellwach.

  • La Primavera & andere seltene Stücke: Klangminiaturen mit großem Herz und musikalischem Feinsinn. Warum sie so selten gespielt werden? Weil heute niemand mehr 17-minütige Variationen auf Opernarien einstudiert, wenn man auch drei Minuten TikTok haben kann.

  • La Streghe (Die Hexen): Paganinis Signature-Song, basierend auf einem Thema aus einem Ballett von Mozart-Komplettierer Süssmayr. Und das ist nur eine der vielen ironischen Querverbindungen, die diese Sammlung so reizvoll machen.

  • Die 24 Capricci: Paganinis technische Grabrede auf das normale Geigenspiel. Berüchtigt, geliebt, gehasst. Bei Accardo aber kein Artistenzirkus, sondern Ausdruck einer Idee: dass Virtuosität auch erzählen kann – und nicht nur staunen lassen muss.

Ein Mann, ein Mythos, ein Marketinggenie

Paganini komponierte oft nur für sich selbst – weil er niemandem zutraute, seine Werke spielen zu können. Er ließ seine Partituren nicht drucken, sondern verwahrte sie wie geheime Zauberformeln. Erst nach seinem Tod wurde klar, wie viel Musik er geschrieben hatte – und wie wenig davon man bislang gehört hatte.

Dabei war er kein einsamer Kauz im Elfenbeinturm, sondern jemand, der sich seiner Wirkung durchaus bewusst war: Er trug Schwarz, inszenierte sich als mystische Figur, weigerte sich, nach seinem Tod kirchlich bestattet zu werden – was dazu führte, dass sein Leichnam jahrzehntelang in Kisten, Kapellen und Konferenzräumen lagerte, während seine Musik längst Kultstatus hatte.

Fazit

Diese Paganini-Box mit Accardo ist kein musikgeschichtliches Denkmal, sondern ein lebendiges Hörvergnügen – bunt, tief, witzig, virtuos, bisweilen rührend. Wer glaubt, Paganini sei nur »für Geiger«, liegt falsch. Wer denkt, Paganini sei nur Oberfläche, wird überrascht sein. Und wer sich nach dem Hören dabei ertappt, ein Glas Rotwein mit einer Violine zu vergleichen – ist nicht allein.

Accardo spielt Paganini so, wie Paganini selbst vermutlich war:
leicht verrückt, unfassbar gut und dabei seltsam menschlich.


Komponist: Niccolò Paganini

Titel: Accardo Plays Paganini- Complete Recordings

Dirigent: Charles Dutoit

Orchester: London Philharmonic Orchestra

Erschienen bei: Deutsche Grammophon (DG)


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