J.S. Bach »Goldberg Variationen«, BMV 988

Goldberg-Variationen – Ein musikalischer Zwangsneurotiker und sein 30-teiliges Beruhigungsmantra

Es gibt Stücke, die man nicht einfach hört, sondern in die man hineingesogen wird wie in ein Möbelhaus-Labyrinth. Man betritt das Klanggebilde durch die unschuldig guckende Eingangstür der Aria, denkt sich »Hach, wie hübsch!“, und plötzlich ist man umzingelt von Fugen, Läufen, Umkehrungen und dem ganz diffizilen Problem, ob Variation Nummer 25 nun barocke Schwermut oder einfach nur musikalische Erschöpfung nach der 24. Runde Hochleistungskontrapunkt bedeutet.

Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach sind nicht einfach ein Stück Musik. Sie sind eine Versuchsanordnung zur Geduld des Zuhörers. Man kann sie genießen, analysieren, abwinken oder anbeten – aber ignorieren geht nicht. Sie sind das musikalische Äquivalent zu einem perfektionistisch aufgestellten Bücherregal: Unfassbar geordnet, aber wenn ein Band auch nur um einen Millimeter schief steht, gerät das ganze Universum in Schieflage.

Warum Goldberg?

Nun, eigentlich hätte das Werk den Titel „Notwendiges Schlafmittel für einen Grafen mit Zwangsneurosen“ verdient. Die Legende besagt, dass der schwer schlafgestörte Graf Hermann Carl von Keyserlingk seinen Hauscembalisten Johann Gottlieb Goldberg beauftragte, ihm nachts beruhigende Musik zu spielen, während er auf seinem noblen Ruhelager lag und sich nicht von den eigenen Gedanken in den Wahnsinn treiben lassen wollte. Dass sich Bach dann entschied, aus der höflichen Bitte nach sanftem Einschlafgeplätscher eine mathematisch perfekte Übung in absoluter kompositorischer Beherrschung zu machen, ist ein wenig so, als würde man statt einer Beruhigungspille gleich ein zwanzigbändiges Psychologielehrbuch verschreiben.

Und welche Aufnahme nun?

Die Antwort auf diese Frage ist etwa so sinnvoll wie die Überlegung, welches Brot das beste der Welt ist. Manche mögen es knusprig, andere weich, und dann gibt es noch die Fraktion, die behauptet, nur Sauerteig aus eigenem Roggenanbau sei moralisch vertretbar. Ähnlich verhält es sich mit der Frage, welche Goldberg-Variationen die besten sind. Glenn Gould hat in den 1950er Jahren eine so revolutionäre Aufnahme hingelegt, dass sie heute noch als absolute Referenz gilt. Dann hat er in den 80ern einfach nochmal eine gemacht – in Zeitlupe, um uns alle zu verwirren. Murray Perahia wiederum nahm sich des Werks an und schenkte uns eine Version, die sich so geschmeidig und erhaben durch die 30 Variationen bewegt, dass man fast das Gefühl hat, das Werk sei eigens für den modernen Konzertflügel geschrieben worden.

Während Harpsichord-Puristen natürlich argumentieren, dass nur ein Zupfinstrument diesem Werk gerecht wird, gibt es andere, die auf einer jazzigen Annäherung an die Variationen bestehen. Denn warum auch nicht? Bach selbst hätte sich wahrscheinlich prächtig amüsiert, wenn er wüsste, dass wir heute 300 Jahre später noch nervöse Grundsatzdebatten darüber führen, ob man sein Werk „richtig“ spielt.

Fazit: Man kann nicht nicht Goldberg hören

Es gibt Repertoire, das kommt und geht. Die Goldberg-Variationen bleiben. Man entdeckt sie mit 20 und hält sich für einen genialen Musikversteher. Man hört sie mit 40 wieder und beginnt, sie wirklich zu schätzen. Und mit 60 stellt man fest, dass man die Hälfte der Finessen immer noch nicht durchdrungen hat. Vielleicht hat Bach sie deshalb für einen schlaflosen Grafen geschrieben: Damit jemand anderes ebenso lange wach liegt wie er selbst.

Wie auch immer man sich ihnen nähert – ob mit dem analytischen Verstand eines Musiktheoretikers oder der inneren Ruhe eines Tee trinkenden Zen-Mönchs – sie sind eine Welt für sich. Eine Welt, in der sich jeder auf seine Weise verirren darf. Und wer irgendwann doch einen Ausweg findet, muss am Ende ohnehin wieder durch die Aria zurück. Also von vorn.


Komponist: Johann Sebastian Bach

Titel: Bach: Goldberg Variations, BWV 988

Pianist: Murray Perahia

Erschienen bei: Sony Classical


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