Bruckner Symphonie Nr. 4
Anton Bruckner – Symphonie Nr. 4 »Romantische«
Zuweilen beschleicht einen der Eindruck, Bruckner sei der heimliche Cousin von Wagner, der zu Familienfeiern stets zu spät kommt, aber dann die mit Abstand interessantesten Dinge erzählt – nur eben sehr langsam und mit vielen, vielen Pausen. Die Vierte Symphonie, die sogenannte »Romantische«, ist das vielleicht einladendste Beispiel seines sinfonischen Oeuvres, und Karl Böhms Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern gilt nicht zu Unrecht als eine Art Referenz unter den zahllosen Interpretationen, die inzwischen in die Welt gestreut wurden wie Konfetti bei einem leicht resignierten Karnevalsumzug.
Dass Bruckner im Jahr 2024 seinen 200. Geburtstag feiert, hat den Effekt, dass wieder besonders viele dieser sinfonischen Gebirgszüge erklommen werden – zu Fuß, per Helikopter oder in Form luxuriös klingender Wiederveröffentlichungen. Die Vierte – das oft gehörte Einstiegswerk für Bruckner-Adepten – hat mit der Aufnahme Böhms von 1974 einen Meilenstein erhalten, der heute noch mit verblüffender Frische über die Bühne schreitet.
Die Wiener Philharmoniker spielen hier nicht einfach nur – sie atmen. Sie gründen. Sie wissen offenbar genau, dass es sich bei Bruckner nicht um einen hyperventilierenden Romantiker handelt, sondern um einen demütigen Architekten der Klangflächen. Gerade in dieser Aufnahme darf man hören, wie das Blech zu jubilieren weiß, ohne dabei zu lärmen, wie die Holzbläser klagen, ohne zu jammern, und wie die Streicher sich tatsächlich einmal auf ihren seidenen Klang besinnen, ohne gleich ins Seifige zu driften.
Karl Böhm – nun wirklich nicht als notorischer Brucknerianer verschrien – gelingt hier das Kunststück, der Musik Würde und Atem zu geben, ohne dabei in Weihe zu versinken. Das ist bemerkenswert, denn Böhms Name wurde eher mit Mozart und Strauss verbunden, während sich andere – Jochum, Klemperer oder Karajan – den Ruf der Bruckner-Spezialisten erwarben. Aber gerade dieser Umstand befreit seine Interpretation von jenem sakralen Ernst, mit dem man Bruckner oft zudeckt wie mit einem barocken Brokatvorhang.
Die Tempi sind getragen, ja – aber nicht lähmend. Die Musik hat Zeit, aber sie verschwendet keine. Und die Aufnahmequalität – aufgenommen für Decca – ist noch heute bemerkenswert. Transparent, ohne klinisch zu sein. Breit, ohne fett. Böhm und die Wiener liefern hier eine Symphonie ab, die nicht den akademischen Bruckner zeigt, sondern den visionären, den farbigen, den beseelten.
Dass diese Einspielung einst auf zwei LPs erschien und damit fast doppelt so teuer war wie andere Veröffentlichungen, verlieh ihr eine gewisse Aura der Exklusivität – auch wenn der wahre Reichtum, wie so oft, im Hören liegt. Und vielleicht ist es diese Kombination aus orchestraler Noblesse, interpretatorischer Klarheit und aufnahmetechnischer Noblesse, die dieser Aufnahme ihren Status als Referenz eingebracht hat.
Ein Bruckner also, wie er sein sollte: mit feuchten Augen, aber trockenem Humor. Monumental, aber nicht mausgrau. Für alle, die glauben, sie wüssten schon, wie Bruckner zu klingen hat – hier lohnt ein zweites, nein: ein aufmerksames Hinhören.
Komponist: Anton Bruckner
Titel: Bruckner: Symphonies Nos. 3 & 4
Dirigent: Karl Böhm
Orchester: Wiener Philharmoniker
Erschienen bei: Decca Music Group Ltd.