Arne Domnerus »Jazz at the Pawnshop«
Von wegen nur Klassik! Oder: Wie mich ein schwedischer Jazzclub eines Besseren belehrte
Eigentlich sollte dieser Blog nur Klassikalben behandeln. Das war der Plan. Große Sinfonien, Kammermusik, Opernarien. Ein Hort der Ernsthaftigkeit, eine verlässliche Bastion gegen musikalische Zerstreuung. Doch dann, eines Abends, während ich in aller Seelenruhe Bruckners Siebte hörte, geschah es: Ein Freund, der den Verdacht hatte, ich sei vielleicht ein bisschen zu sehr in meiner klassisch-analogen Parallelwelt gefangen, schob mir ein Album über den Tisch: Jazz at the Pawnshop.
„Hör das“, sagte er. „Klingt fantastisch.“
Nun sind das zwei Worte, die mich als audiophilen Menschen sofort alarmieren. Nicht „Das ist tolle Musik“, nicht „Wunderbare Interpretationen“, nein, „Klingt fantastisch“. Das ist die Sorte Empfehlung, die meist mit teuerstem HiFi-Gebrabbel endet und oft mit einem Album, auf dem eine gelangweilte Sängerin mit sphärischen Synthesizerflächen über die Schönheit des Universums sinniert.
Aber ich wollte meinem Freund nicht gleich die Tür vor der Nase zuschlagen. Also legte ich die Platte auf. Und was soll ich sagen? Es klang wirklich super.
Ein Jazzclub in Stockholm, der zufällig zur Legende wurde
Wir schreiben das Jahr 1976. Während sich in Amerika der Jazz längst in tausend Richtungen verzweigt hat – Free Jazz hier, Fusion da, Smooth Jazz am Rande eines Hotelpools –, sitzen in Stockholm ein paar altgediente Musiker zusammen und spielen, als wäre es immer noch 1948. Kein Prog-Jazz, kein tonaler Dekonstruktivismus, einfach nur kerniger Swing mit einer Besetzung, die Benny Goodman oder Lionel Hampton nicht besser hätten zusammenstellen können.
Dazu der Aufnahmeort: Ein kleiner, verraucht-geselliger Club namens Stampen, von den Einheimischen The Pawnshop genannt, weil er früher tatsächlich ein Pfandhaus war. Dass dort an zwei Abenden ein Tontechniker namens Gert Palmcrantz mit einer Nagra IV-Bandmaschine saß, um die Auftritte für ein paar Aufnahmen festzuhalten, wusste zu dem Zeitpunkt noch niemand so recht zu würdigen. Was dann geschah, ist das, was man eine veritable Überraschung nennt: Die Aufnahmen klangen nicht nur gut, sie klangen so verdammt gut, dass sie bald zur inoffiziellen Pflichtanschaffung für HiFi-Enthusiasten avancierten.
Jazz zum Anfassen – oder: Wo zum Teufel ist mein Drink?
Wer Jazz at the Pawnshop hört, sitzt nicht bloß passiv im heimischen Sessel. Nein, man sitzt mittendrin im Club, hört das leise Klirren von Gläsern, den Klang von Münzen, die auf den Tresen gelegt werden, und das gelegentliche Murmeln eines Kellners, der vermutlich gerade einer älteren Dame mit federleichtem Akzent „Einen Gin Tonic, aber wenig Eis, bitte“ reicht. Und inmitten dieser Szene spielt eine Band, als hätte sie nie etwas anderes getan.
An der Spitze: Arne Domnerus, ein schwedischer Altsaxophonist, der klingt, als hätte er sein ganzes Leben lang in New Orleans verbracht, statt in Stockholm. An seiner Seite: Bengt Hallberg am Klavier, Lars Erstrand am Vibraphon, Georg Riedel am Bass und Egil Johansen am Schlagzeug. Ein Ensemble, das so tight spielt, dass man fast vergessen könnte, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt.
Der Klang, der HiFi-Fans ins Schwärmen bringt
Aber kommen wir zur wahren Sensation: dem Sound.
Die Tonqualität ist von einer Klarheit, die man fast unverschämt nennen möchte. Man hört nicht nur die Musik, sondern auch den Raum. Die leichte Hallfahne des Clubs. Das subtile Nachschwingen der Vibraphonstäbe. Das charakteristische Tack der Pianoanschläge. Palmcrantz’ Mikrofone – ein paar Neumann U47, schlau positioniert – fingen all das mit einer Perfektion ein, die bis heute unerreicht scheint.
Kein Wunder also, dass dieses Album über die Jahre in unzähligen audiophilen Formaten wiederveröffentlicht wurde: XRCD, SACD, K2HD, Vinyl in 45 U/min – als hätte man eine heilige Schrift entdeckt, die in immer noch besser lesbaren Versionen veröffentlicht werden muss. Aber, man muss es zugeben: Jede neue Edition hat ihren Reiz.
Jazz für Klassikfreunde – und alle anderen
Es gibt Alben, die als audiophile Referenz durchgehen, aber musikalisch blutleer sind. Jazz at the Pawnshop ist das Gegenteil: Hier treffen sich überragende Klangqualität und mitreißende Musik. Und ja, obwohl mein Blog sich eigentlich der Klassik verschrieben hat, darf sich ein solches Werk ruhig dazwischenmogeln. Denn egal ob Beethoven, Bruckner oder eben Domnerus und Co. – am Ende geht es doch um das Gleiche: die Freude an Musik.
Wer also einmal in ein perfekt eingefangenes Live-Erlebnis eintauchen will – ein Album, bei dem man fast geneigt ist, nach dem Kellner zu winken, um noch ein Getränk zu bestellen –, der sollte sich Jazz at the Pawnshop anhören.
Es sei denn, man mag keinen Jazz. Dann sollte man es trotzdem anhören – allein schon, um zu verstehen, warum andere sich so darüber freuen.
Hört euch das an, Freunde. Es lohnt sich.
Titel: Jazz at the Pawnshop
Musiker: Arne Domnerus, Bengt Hallberg, Georg Riedel, Egil Johansen, Lars Erstrand
Erschienen bei: Proprius