Keith Jarrett »The Köln Concert«
The Köln Concert – Wie man aus einem miesen Klavier ein Meisterwerk macht
Es gibt Alben, die in jede ernstzunehmende Plattensammlung gehören, so wie ein gewisser Vorrat an ungenutzten Notizbüchern in jeden Haushalt mit intellektuellem Anspruch. The Köln Concert von Keith Jarrett ist so ein Album. Es ist nicht nur die meistverkaufte Solo-Klavieraufnahme der Geschichte, sondern auch ein merkwürdiges Phänomen: ein Jazzalbum, das von Menschen gekauft wurde, die sonst keinen Jazz hören, so wie teure Wandkalender von Leuten erstanden werden, die nie auf das Datum schauen.
Nun stellt sich die Frage: Liegt das am Inhalt oder an der Legende? Denn die Begleitumstände dieses Konzerts lesen sich wie ein Filmplot, der unter der Regie von Lars von Trier jederzeit ins Tragische kippen könnte. Jarrett, ohnehin ein empfindsamer Geist, war an jenem Abend von einer langen Autofahrt gezeichnet, hatte Rückenschmerzen und stand plötzlich einem Klavier gegenüber, das in etwa so wohlklingend war wie eine vom Zahn der Zeit bearbeitete Stechuhr. Der bestellte Bösendorfer war nicht auffindbar, und stattdessen wurde ihm ein klanglich begrenzt freudebereitendes Ersatzmodell auf die Bühne gestellt. Jarrett, anstatt theatralisch abzureisen oder in eine Existenzkrise zu verfallen, tat das, was Genieße eben tun: Er nahm die Herausforderung an. Laut Produzent Manfred Eicher spielte Jarrett gerade deswegen so gut, weil er sich nicht in den Klang des Instruments verlieben konnte und daher kläglich scheiternde Romantik von vornherein ausschloss.
Was folgte, war keine Konzertdarbietung im herkömmlichen Sinne, sondern ein anderthalbstündiger Monolog mit sich selbst, bei dem die Zuhörer zufällig mithören durften. Jarretts Improvisationen bewegen sich zwischen zärtlicher Kontemplation und eruptiven, fast wahnhaften Passagen. Ein wenig so, als hätte jemand die Philosophie des Daoismus in Noten übersetzt: Ein ständiges Fließen, kein festes Ziel, aber immer eine Richtung.
In der Musikpresse wurde The Köln Concert oft als "meditativ" bezeichnet, ein Begriff, der hier nicht mit esoterischer Dudelmusik verwechselt werden sollte. Vielmehr handelt es sich um eine Art musikalische Selbstgesprächsführung mit therapeutischem Effekt – allerdings nicht nur für den Pianisten, sondern auch für den Hörer.
Und dann gibt es da noch Jarretts berühmt-berüchtigte Begleitgeräusche. Wer das Album zum ersten Mal hört, könnte versucht sein, nach einer streunenden Katze in der Wohnung zu suchen, nur um dann festzustellen, dass es Jarrett selbst ist, der während des Spiels grummelnd, murmelnd und gelegentlich sogar stöhnend in Dialog mit seinem Instrument tritt. Dieses vokale Eigenleben ist entweder irritierend oder – wenn man es annimmt – das i-Tüpfelchen eines einzigartigen Klangerlebnisses.
Heute, fast 50 Jahre nach der Aufnahme, ist The Köln Concert eine musikalische Ikone, eine Art akustisches Wahrzeichen. Eine Zeitlang wurde es gerne als Hintergrundmusik zum Latte-Macchiato-Trinken in gut sortierten Altbauwohnungen verwendet, bis findige Hörer erkannten, dass diese Musik zu aufwühlend ist, um wirklich im Hintergrund zu bleiben. Keith Jarrett selbst, der sich nur ungern auf eine einzige musikalische Schublade reduzieren lässt, sagte 1992: "Wir müssen lernen, die Musik zu vergessen. Sonst werden wir süchtig nach der Vergangenheit." Ein faszinierender Gedanke, der jedoch in diesem Fall kaum umzusetzen ist. Denn wer dieses Konzert einmal gehört hat, wird es nicht vergessen – und das ist vielleicht die größte Magie daran.
Titel: The Köln Concert (Live at the Opera, Köln, 1975)
Musiker: Keith Jarrett
Erschienen bei: ECM