Mahler Symphonie Nr. 6
Bernstein, Mahler und das Drama in sechs Sätzen
Man könnte meinen, eine Schallplatte sei eine statische Angelegenheit. Schließlich liegt sie da, schwarz und kreisrund, dreht sich höchstens im Auftrag der Mechanik und gibt ihren Inhalt unverändert preis, solange man sie nicht als Untersetzer für heiße Teetassen missbraucht. Doch dann gibt es jene Aufnahmen, die nicht einfach nur erklingen, sondern sich regelrecht ins Bewusstsein brennen, sich einnisten wie ein unerwartet langer Besuch einer interessanten, aber auch ein wenig anstrengenden Person.
Leonard Bernsteins Interpretation von Mahlers 6. Symphonie gehört genau in diese Kategorie. Ein Erlebnis von geradezu expressionistischer Wucht, das nicht nur Mahler aufs Genaueste ernst nimmt, sondern auch die Hörgewohnheiten des Publikums auf links dreht.
Bernsteins Einspielung der Sechsten mit den Wiener Philharmonikern ist so etwas wie ein Mahlerianischer Endgegner. Sie ist nicht einfach nur gut – sie ist auf eine Weise gut, die jeden Versuch, es danach nochmal mit einem anderen Dirigenten zu hören, ein bisschen schal wirken lässt. Es ist, als hätte man einmal ein perfekt zubereitetes Wiener Schnitzel gegessen und müsste fortan mit vorgefertigten Supermarktvarianten Vorlieb nehmen.
Die Wiener, Mahler und die hohe Kunst des Krachmachens
Nun sind die Wiener Philharmoniker bekanntlich ein Orchester von göttlicher Klangkultur. Ihre Streicher klingen wie auf Seide gelegte Butter, ihre Holzbläser haben diesen märchenhaft warmen Ton, der einen direkt in die musikalischen Salons der Jahrhundertwende katapultiert. Aber: Sie sind nicht unbedingt als das Orchester bekannt, das die musikalische Groteske besonders schätzt. Und genau hier zeigt sich Bernsteins Genialität. Er schafft es, aus diesem eleganten Klangkörper all die Mahlerschen Hässlichkeiten herauszukitzeln – die schmatzenden Portamenti der Bläser, die widerborstigen Crescendi der Trompeten, das hämische Gekreische der hohen Streicher. Das ist nicht Mahler in einer edlen, salonfähigen Ausgabe. Das ist Mahler, als würde er einem in einer Wiener Kaffeehausdebatte gerade mit einer abfälligen Geste den rauchenden Rest seiner Zigarette vor die Füße schnippen.
Ein Dirigent, der die Musik meint
Mahler war ein Komponist, der sich keine Nebensächlichkeiten erlaubte. Jede Anweisung in seiner Partitur ist so präzise wie eine Bauanleitung für eine Atomuhr. Und Bernstein, oft als „emotionaler Exzentriker“ abgestempelt, tut hier etwas Unerhörtes: Er hält sich genau an die Partitur. Er betont, er verschärft, er überhöht – aber er erfindet nichts dazu. Die von Mahler geforderten Glissandi der Hörner, das knirschende, fast absurde Schleppen der Tempi im Finale, die grotesk schleifenden Bläserpassagen: Alles da. Und nicht einfach nur da, sondern mit einer solchen akustischen Wucht versehen, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als es zu glauben. Das hier ist keine Partitur, die bloß gespielt wird. Das hier ist eine musikalische Tragödie, die von einem Dirigenten erzählt wird, der es meint.
Dramatik in feinster Dosierung
Das Finale, diese monumentale Totenprozession, in der Hoffnung, Resignation und Größenwahn in einem furiosen Klangstrudel enden, ist hier an Perfektion nicht zu überbieten. Bernstein zieht alle Register, ohne je ins Theatralische abzudriften. Die Kontraste sind brutal, die Dynamikspitzen so scharf geschnitten, dass man sich fragt, wie die Streicher danach noch rosige Fingerspitzen haben. Und dann die legendären Hammerschläge, diese unheilverkündenden, den Boden unter den Füßen wegziehenden Schläge des Schicksals: Hier klingen sie nicht wie ein musikalischer Gag, sondern wie das vertonte Ende aller Dinge.
Eine Aufnahme für die Ewigkeit
Warum ist diese Aufnahme so gut? Weil sie kompromisslos ist. Weil sie keinen Respekt davor hat, Mahlers Extreme auszuleuchten, ohne sie künstlich zu überhöhen. Weil sie zeigt, dass Musik nicht nur dazu da ist, gehört, sondern erlebt zu werden. Bernstein in Wien, Mahler Sechs – das ist nicht nur eine der besten Aufnahmen dieses Werks. Es ist eine der besten Einspielungen überhaupt.
Also, Freunde: Wenn ihr euch einmal fühlen wollt, als stündet ihr mitten in einer musikalischen Apokalypse mit Aussicht auf ein bisschen Schönheit im Chaos – dann hört euch das an. Und hört genau hin. Mahlers Partitur steckt voller Geheimnisse. Bernstein hat sie alle aufgedeckt. Man sollte es ihm danken, indem man zuhört.
Komponist: Gustav Mahler
Titel: Mahler: Symphony No. 6; Kindertotenlieder
Dirigent: Leonard Bernstein
Orchester: Wiener Philharmoniker
Erschienen bei: Deutsche Grammophon (DG)