Mozart »Grosse Messe c-moll«

Es gibt Momente im Leben eines Musikliebhabers, da wird man von einer Einspielung derart unverhofft aus den Schuhen gehoben, dass man sich erst einmal setzen muss. Dies ist einer dieser Momente. Und es geht um nichts Geringeres als Mozarts Messe in c-Moll – dirigiert von Leonard Bernstein. Ja, genau der Bernstein. Der, dessen Name sofort mit Mahler, der New Yorker Philharmoniker und dramatisch schwitzenden Dirigiergesten assoziiert wird. Aber Mozart? Dazu kommen wir gleich.

Bernstein hat einige Aufnahmen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gemacht. Man kennt seine späten Haydn-Messen und natürlich auch seine Mozart-Einspielungen, darunter das Requiem und eben diese Messe in c-Moll. Aber wer hätte gedacht, dass ausgerechnet seine Interpretation dieser unvollendeten, schwer fassbaren Komposition dermaßen einschlägt? Nicht ich. Und auch nicht die Jury von Répertoire, jenem französischen Klassik-Magazin, das mit fast sportlichem Eifer komplette Werküberblicke erstellte – in blindem Hören. Und genau diese Jury kürte Bernsteins Aufnahme zur besten Einspielung der Messe. Ich war baff. Und ich war skeptisch.

Denn, seien wir ehrlich: Mozarts Kirchenmusik – nun ja. Der Mann war kein Bach. Er war auch kein Bruckner. Mozarts sakrale Werke haben oft einen Hauch von „Ich muss, aber ich will nicht.“ Sein Credo der sogenannten „Credo-Messe“ beispielsweise ist ein Musterbeispiel juveniler Subversion – musikalische Wortspielereien, die mehr nach Oper als nach Liturgie klingen. Es ist, als hätte er die Messe geschrieben, weil es der Erzbischof von Salzburg so wollte – und gleichzeitig einen schelmischen Kommentar dazu in die Noten geschmuggelt. Mozarts Verhältnis zur Kirchenmusik war ambivalent.

Und doch gibt es die Messe in c-Moll. Ein Monument, das in seinen besten Momenten in der Liga der h-Moll-Messe von Bach oder Beethovens Missa solemnis spielt. Wäre sie vollendet worden, wir hätten heute womöglich das Nonplusultra der Kirchenmusik vor uns. Stattdessen bleibt sie eine Art grandioses Fragment, eine Mischung aus Oratorium und Oper, mit hinreißenden Solopartien und gewaltigen Fugen, aber ohne eine fertige Gesamtform.

Und dann kommt Bernstein. Er, der in den späten Jahren seiner Karriere so manches Mal ins Theatralische abdriftete, liefert hier eine schlichtweg atemberaubende Interpretation ab. Er schafft es, sowohl die orchestrale Wucht als auch die innige Dramatik dieser Musik herauszuarbeiten. Die Besetzung ist exquisit: Arleen Augér, Frederica von Stade, Frank Lopardo und Cornelius Hauptmann – ein Ensemble, das nicht nur stimmlich überzeugt, sondern mit einer Intensität agiert, die einen durch Mark und Bein geht. Und das Orchester? Präzise, strahlend, mit genau jener Mischung aus Leichtigkeit und Gravitas, die diese Musik braucht.

Das Beeindruckendste aber ist Bernsteins Gespür für das Große und Ganze. Wo viele Dirigenten in Mozarts Messen das Opernhafte betonen oder in die barocke Manieriertheit abgleiten, hält Bernstein einen perfekten Mittelweg. Es ist feierlich, aber nicht pompös. Leidenschaftlich, aber nicht übertrieben. Man fühlt sich ein wenig, als hätte Bernstein in diesen Momenten die Kirche für sich entdeckt – ohne dabei je missionarisch zu werden.

Und so steht sie da, diese Aufnahme: ein Denkmal an eine unvollendete Großtat Mozarts, ein Zeugnis Bernsteins unermüdlicher Musikalität und – seien wir ehrlich – eine jener raren Sternstunden der Plattengeschichte, in denen einfach alles passt. Wer bisher noch nicht in die Messe in c-Moll eintauchen wollte, dem sei diese Aufnahme ans Herz gelegt. Sie könnte eine Offenbarung sein. Oder zumindest eine musikalische Erleuchtung.

Also: Hören! Und weitermachen. Denn die nächste Entdeckung lauert schon an der nächsten Ecke.


Komponist: Wolfgang Amadeus Mozart

Titel: Grosse Messe in c-moll, KV427

Dirigent: Leonard Bernstein

Orchester: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Erschienen bei: Deutsche Grammophon


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