Ola Gjeilo »Dreamweaver«

Ein klanggewordenes Nordlicht mit Chor, Klavier und einem Hauch skandinavischem Überirdischen

Manchmal betritt man beim Hören eines Albums nicht einfach einen Raum, sondern eine ganze Landschaft. In Dreamweaver, dem neuen Album des norwegischen Pianisten und Komponisten Ola Gjeilo, ist es nicht irgendein klangliches Terrain – es ist Norwegen, gemalt mit Licht. Oder, um präzise zu sein: mit Klang, der wie Licht wirkt. Wie weiches Nordlicht, das einem über die Sinne streicht, ohne vorher anzuklopfen.

Gjeilo, der aussieht, als könnte er auch ein Lifestyle-Influencer mit Hang zu Single-Origin-Kaffees sein, ist tatsächlich ein Mann der Kontraste: ein Minimalist mit Hang zur großen Geste, ein Melancholiker mit sonnendurchflutetem Tonspektrum, ein Komponist, der in der Nähe von New York lebt, aber klingt, als sitze er barfuß in einem Holzhaus in den Fjorden, wo W-LAN schlecht, aber das Geigenspiel der Nachbarn exzellent ist.

Ein Album wie eine Geschichte, die keiner stört

Dreamweaver ist kein Werk, das sich mit dramatischer Atempause ankündigt. Vielmehr entfaltet es sich wie ein Gedicht, das man zufällig beim Durchblättern eines lange vergessenen Notizbuchs entdeckt. Es beginnt mit The Road – einem musikalischen Reisetagebuch, das laut Gjeilo von tatsächlichen norwegischen Landschaftseindrücken inspiriert ist. Und so klingt es auch: wie eine Fahrt durch Wälder, an Seen entlang, vorbei an Häusern, in denen Menschen wohnen, die schon immer ein wenig weiser wirkten als man selbst.

Der Titelsong Dreamweaver wiederum beruht auf einem norwegischen Volksmärchen – und auch wenn man keine Ahnung hat, worum es in diesem Märchen geht, spürt man, dass es irgendetwas mit Verwandlung zu tun hat. Mit Dingen, die nachts passieren. Oder mit dem langsamen Übergang von Schlaf zu Welt.

Gjeilo dirigiert – vom Klavier aus

Ein nicht unwesentlicher Teil des Zaubers liegt darin, dass Gjeilo selbst am Flügel sitzt. Nicht weil er auf Teufel komm raus zeigen müsste, wie virtuos er sein eigenes Werk interpretiert – das tut er nicht. Sondern weil sein Spiel eine Art inneren Pulsschlag vorgibt, an dem sich alles andere orientiert. So gesehen ist er hier weniger Solist als musikalischer Magnetpol, der Chor (The Choir of Royal Holloway), Orchester (Royal Philharmonic), Sopran, Violine und Cello anzieht und sortiert. Nicht, indem er dominiert, sondern indem er zuhört.

Und dann dieser Chor: wie er sich einfügt, sich erhebt, wieder zurücktritt. Textlich stammen die Worte von Charles Anthony Silvestri, einem langjährigen Gjeilo-Vertrauten. Auch das ist bemerkenswert: Es ist Musik mit Text, aber der Text ist nie wichtig im Sinne von "Bitte auf den Inhalt achten!", sondern wird selbst zu Klang.

Hörgenuss mit audiophiler Lizenz

Produziert wurde das Ganze von Decca in der Kirche St.-Jude-on-the-Hill in London, was nicht nur nach einem Agatha-Christie-Roman klingt, sondern auch für wunderbar atmende Raumakustik sorgt. Der Hall ist präsent, aber nicht schwülstig, die Stimmen leuchten ohne Glanzlack. Besonders gelungen: Winter Light, ein Stück für Klavier und Cello, das klingt, als hätte jemand einen einzigen Sonnenstrahl in Noten gegossen. Und dann eingemummelt in einen norwegischen Wollschal.

Klanglich ist das Album eine Wohltat. Warm, aber nicht breiig. Transparent, aber nicht kalt. Der Raum zwischen den Tönen ist genauso bedeutend wie die Töne selbst – ein seltenes Kunststück in einer Welt, in der Musik zu oft auf "möglichst viel gleichzeitig" getrimmt ist. Hier dagegen: Luft. Licht. Leichtigkeit.

Fazit: Musik für Menschen, die sich nicht mehr ständig erklären wollen

Dreamweaver ist kein Album für Eilige. Es fragt nicht: „Und, hat’s dir gefallen?“ Es wartet einfach. Es sitzt da, wie ein Hund in der Abendsonne. Und wenn man sich ihm zuwendet, schenkt es einem einen Moment, in dem alles nicht nur ein bisschen schöner klingt – sondern ein bisschen mehr nach einem selbst.

Oder anders gesagt: Wer sich je gefragt hat, wie wohl musikalisch manifestierte Sanftmut klingt, der wird hier fündig. Und vielleicht – aber nur vielleicht – auch ein bisschen glücklicher.


Komponist: Ola Gjeilo

Titel: Dreamweaver

Dirigent: Rupert Gough

Orchester: The Choir of Royal Holloway & Royal Philharmonic Orchestra 

Erschienen bei: Decca Music Group Ltd.


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