Prokofjew Symphonie Nr. 5
Prokofjews Fünfte Sinfonie – ein Werk und sein tragisches Schicksal
Es gibt Kompositionen, die aus unerfindlichen Gründen selten in ihrer vollen Pracht erstrahlen dürfen. Sergej Prokofjews Fünfte Sinfonie ist eine davon. Sie ist wie ein besonders intelligenter Hund in einem Haushalt, in dem niemand Zeit hat, ihm Kunststücke beizubringen. Das Potenzial ist da, aber die Umsetzung scheitert regelmäßig an menschlicher Fahrlässigkeit.
Tempo – eine endlose Tragödie
Schon beim ersten Satz gerät das Werk ins Straucheln. Prokofjew schreibt „Andante“ vor. Andante, das sagenumwobene Tempo, das sich irgendwo zwischen gemächlichem Spaziergang und ambitioniertem Schaulaufen bewegt. Doch Dirigenten behandeln es oft wie eine knifflige Rechenaufgabe: Einige schleppen sich durch, als würden sie in einer inszenierten Zeitlupe stecken, andere jagen so atemlos hindurch, dass man Sorge hat, die Blechbläser könnten am Ende künstlich beatmet werden müssen.
Dabei ist der erste Satz ein glanzvolles Beispiel für Prokofjews „falsche Note“-Romantik – Melodien, die groß und erhaben sind, aber immer einen überraschenden, unorthodoxen Haken schlagen. Wäre diese Musik eine Person, dann vermutlich eine distinguierte ältere Dame, die auf einem Empfang plötzlich ein exzentrisches Hütchen mit blinkenden LEDs trägt.
Schlagzeug? Nein danke, ich bin Dirigent!
Dann gibt es noch die tragische Beziehung zwischen Dirigenten und Perkussion. Prokofjew, nicht gerade bekannt für Zurückhaltung, schrieb für den Höhepunkt des ersten Satzes ein wuchtiges Fortissimo für Becken und Tam-Tam – ein Moment, in dem das Orchester einem Meteoriteneinschlag gleichkommt. Doch viele Dirigenten scheinen eine tiefe, geradezu persönliche Abneigung gegen Schlaginstrumente zu hegen. Sie denken offenbar: „Oh, dieses laute Geklapper… Da könnte ja das Publikum aufwachen!“
Das Ergebnis: Die große Coda plätschert dahin wie ein Sektglas, das jemand unauffällig mit Wasser aufgefüllt hat.
Musikwissenschaft trifft auf Praxisverweigerung
Vielleicht liegt das Problem tiefer. Musikologen neigen dazu, Werke nach harmonischer Struktur und Kontrapunkt zu sezieren, während essentielle Elemente wie Dynamik, Akzente oder Klangfarben eher als Beiwerk behandelt werden. Ein bisschen so, als würde man ein Fünf-Gänge-Menü bewerten und sich ausschließlich mit der Größe der Teller befassen.
Aber was ist mit den orchestralen Höhepunkten? Den Gänsehaut-Momenten? Dem plötzlichen, gnadenlosen Aufblitzen von Prokofjews Sarkasmus? Das sind doch die Zutaten, die dieses Werk lebendig machen – doch wenn sie übersehen werden, bleibt von der Sinfonie nur ein klanglich gehobenes, aber letztlich blutleeres Erlebnis.
Die Rettung naht – aus der Ukraine
Zum Glück gibt es Lichtblicke. Eine der besten Aufnahmen kommt nicht aus Berlin, Wien oder Chicago, sondern vom Nationalen Symphonieorchester der Ukraine unter Theodor Kuchar. Wer jetzt kurz zuckt und denkt: „Waaas? Aber die sind doch gar nicht auf der Liste der fünf heiligen Top-Orchester, die ich aus meinem Plattenschrank kenne!“ – genau. Und das macht die Sache umso schöner.
Kuchar nimmt Prokofjews Anweisungen ernst. Er versteht, dass die Sinfonie groß und wild sein darf, dass sie an manchen Stellen leise wie eine Katze auf Zehenspitzen schleichen muss, nur um dann urplötzlich mit einem Blechbläser-Hammer auszuholen. Die Coda des ersten Satzes? Fehlerfrei, donnernd, gewaltig – exakt so, wie es sein sollte!
Fazit – das ewige Potenzial eines missverstandenen Meisterwerks
Prokofjews Fünfte ist ein Kunstwerk, das alles hat: Monumentale Melodien, grimmigen Humor, explosiven Bombast und zarte, introspektive Momente. Doch sie erfordert einen Dirigenten, der keine Angst davor hat, laut, leise, schnell, langsam und alles dazwischen zu denken. Wer das schafft, erschafft ein wahres Spektakel.
Und wer es nicht schafft? Nun, der sorgt dafür, dass diese Sinfonie weiterhin in der Ecke steht wie ein glänzender Ferrari, dessen Fahrer beharrlich im ersten Gang bleibt.
Komponist: Sergei Prokofiev
Titel: Prokofiev: Symphony No. 5 - The Year 1941
Dirigent: Theodore Kuchar
Orchester: Ukraine National Symphony Orchestra
Erschienen bei: Naxos