Maurice Ravel »La Valse«
La Valse – Ravels Tanz auf dem Vulkan
Man stelle sich einen Wiener Ballsaal vor, irgendwo um 1900. Alles glänzt, alles rauscht, alles parfümiert. Die Damen tragen Kleider, die beim Gehen klingen wie Seiten aus Butterbrotpapier, der Oberkellner ist ein ehemaliger Husarenmajor, und der Hausherr spricht aus Prinzip nur Französisch, weil Deutsch so unschön klingt, wenn man es lispelt.
Und dann beginnt die Musik.
Zuerst ist da nur ein leiser Brodem. Nebel. Bewegung im Dunst. Ein orchestraler Urknall in Zeitlupe. Und irgendwann schält sich der Walzer aus diesem Gewaber heraus wie ein besonders dekadenter Schmetterling aus der Kokonphase. La Valse, komponiert von Maurice Ravel zwischen 1919 und 1920, beginnt als Reverenz an die goldene Walzer-Ära – und endet als deren sarkastisches Requiem.
Ursprünglich wollte Ravel das Ganze Wien nennen – eine elegante musikalische Stadtansicht in 3/4-Takt. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. Millionen Tote, zerbröselte Imperien, verlorene Illusionen. Als Ravel sich wieder an die Arbeit macht, ist aus der Liebeserklärung an Wien ein klingender Totentanz geworden. Der Glanz ist noch da – aber er fault schon leicht.
Die Musik? Großartig. Unheimlich. Präzise. Und abgründig schön.
Wer genau hinhört, erkennt die Struktur: La Valse hat die Form eines Crescendos der Verzweiflung. Es beginnt mit einem kaum hörbaren Puls, einem schimmernden orchestralen Brokat, auf dem langsam erste Tanzschritte entstehen. Alles wirkt wie unter Glas, wie durch Seide gefiltert – aber das Licht wird kälter. Je weiter der Walzer voranschreitet, desto mehr zerfasert er, beginnt zu stolpern, zu irren, zu wanken. Der Tanz wird zum Taumel, zur Ekstase, zur Explosion.
Das Ende? Ein orchestraler Zusammenbruch. Musik, die in sich selbst implodiert. Ein emotionaler und klanglicher Hiroshima-Moment – ohne Atombombe, aber mit Tam-Tam, Trompeten und orchestraler Zentrifugalkraft.
Ravel selbst wehrte sich übrigens gegen die gängigen Interpretationen – wollte nichts hören von "Kritik an der Wiener Gesellschaft" oder "Musik als Spiegel der Zivilisationskrise". Er habe, so sagte er, einfach nur einen Walzer komponieren wollen, der an Intensität zunimmt. Nun. Wenn das ein normaler Walzer ist, dann ist Requiem for a Dream vermutlich eine Gute-Nacht-Geschichte.
Dass La Valse ursprünglich für die Ballets Russes gedacht war, aber von Sergei Djagilew mit der berüchtigten Begründung "Das ist die Malerei eines Balletts, kein Ballett" abgelehnt wurde, gehört zu den bitteren Ironien der Musikgeschichte. Die beiden sprachen danach übrigens nie wieder miteinander. Künstler sind da empfindlich.
Und jetzt – Trommelwirbel, bitte – zur Aufnahmeempfehlung.
Man kann La Valse auf viele Arten dirigieren: elegant, parfümiert, wankend, explosiv, gefährlich. Aber eine der wirklich glühenden Interpretationen stammt von Pierre Boulez mit den Berliner Philharmonikern (DG, 1995). Diese Aufnahme ist alles, was man sich von einer post-apokalyptischen Klangorgie wünscht: Präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, wuchtig wie ein mittelgroßer Vulkanausbruch und dennoch mit jener nervösen, sezierenden Klarheit, für die Boulez berühmt (und gelegentlich gefürchtet) war.
Der Mann, der einst forderte, alle Opernhäuser in die Luft zu jagen, zeigt hier, wie man ein Orchester in den Wahnsinn dirigiert, ohne dass auch nur ein einziger Ton zu viel ist. Nichts ist schwülstig, nichts verläuft, und doch wird alles zerschmettert. Besonders das Finale dieser Aufnahme klingt wie das musikalische Äquivalent zu „Wir bauen alles wieder auf – aus Staub und Trümmern, mit sehr hübschen Fagotten“.
Fazit?
La Valse ist keine leichte Kost. Es ist ein Stück Musik, das tanzt – und dabei seine eigene Geschichte in Schutt und Asche legt. Wer es hört, sollte vorbereitet sein: auf Schönheit, auf Abgrund, auf Kontrollverlust mit Stil.
Und danach? Eine Pause. Vielleicht ein Kamillentee. Vielleicht etwas Stilles.
Aber bitte keinen Johann Strauß. Der würde das nicht überleben.
Komponist: Maurice Ravel
Titel: Daphnis et Chloë - La Valse
Dirigent: Pierre Boulez
Orchester: Berliner Philharmoniker
Erschienen bei: Deutsche Grammophon