Red Norvo Quintet »The Forward Look (Live)«

Oder: Wie man sich Silvester 1957 elegant auflöst

Der Unterschied zwischen einer historischen Jazzaufnahme und einer Jazzaufnahme, die klingt, als habe man sie mit einem alten Radiowecker unter der Bettdecke mitgeschnitten, liegt – man ahnt es – im Gerät. Oder vielmehr: im Genie hinter dem Gerät. The Forward Look (Live) vom Red Norvo Quintet wurde an Silvester 1957 in einem kalifornischen Club aufgenommen, und das Interessanteste daran ist nicht, dass die Band swingt wie frisch geölt – sondern dass der Aufnahmeleiter ein studentischer Klangbastler war, der später als audiophiler Gott verehrt werden sollte. Man sagt, er habe seine Röhrengeräte aus Alufolie, Hoffnung und Präzision gebaut. Man hört es.

Es beginnt mit einem warmen „Hallo“ der Instrumente – nicht etwa höflich, sondern auf die Art, wie Jazzmusiker hallo sagen, wenn sie eigentlich lieber gleich anfangen würden zu reden. Red Norvo, ein Mann, der seinem Vibraphon Töne entlockt, als würde er einem Aquarium das Atmen beibringen, führt das Quintett mit einer Selbstverständlichkeit, die an Telepathie grenzt. Die Musiker um ihn herum – Jerry Dodgion (Reeds), Jimmy Wyble (Gitarre), Red Wootten (Bass) und John Markham (Drums) – sind nicht etwa Begleiter, sondern Gesprächspartner. Man möchte ihnen ein Espresso ausgeben und stundenlang zuhören.

Und wie sie da stehen, auf dieser Aufnahme, klingen sie so gegenwärtig, dass man fast geneigt ist, nach dem Mantel zu greifen, um ihnen entgegenzugehen. Es ist eine sonderbare Art von Intimität, wenn historische Musik klingt, als würde sie sich gerade eben erst ereignen. Wenn jeder Pinselstrich auf dem Becken, jede gezupfte Saite, jeder luftige Reedton sich mit einer solchen Klarheit artikuliert, dass man beinahe errötet. Der Bass ist da – wirklich da – nicht als dumpfer Tiefton, sondern als personifiziertes Argument in einem Gespräch über Groove.

Die Stücke sind klassisch, aber nicht museal. „My Funny Valentine“ klingt hier nicht nach Valentinskarte mit Rosenaufdruck, sondern nach Gespräch auf dem Balkon, nachts, mit leiser Ironie und gutem Wein. „Sweet Georgia Brown“ hüpft nicht, sie tänzelt. Und das Stück „How’s Your Mother-in-Law?“ stellt nicht nur die klangliche Frage, sondern beantwortet sie gleich auch: herzlich swingend, danke der Nachfrage.

Natürlich ist das Ganze live – was man daran merkt, dass niemand klatscht. Oder nicht darf. Denn alles ist so unfassbar gut mikrofoniert, dass man sich fragt, ob der Tontechniker eine Affäre mit dem Raum hatte. Und ja, die Klangqualität: Man kann sie nicht hoch genug loben. Sie ist wie ein Fensterputzer bei Tiffany’s – plötzlich sieht man Dinge, von denen man nicht wusste, dass sie da sind. Die Luft zwischen den Noten. Den Raum um die Musik.

Wer also glaubt, dass „Livealbum“ ein Synonym für „mäßige Qualität, dafür mit Applaus“ sei, dem sei The Forward Look ans Herz gelegt. Nicht, weil es alt ist. Sondern weil es klingt, als hätte jemand endlich verstanden, wie Jazz klingen soll, wenn man ihn nicht archiviert, sondern erlebt.

Und das ist am Ende vielleicht die schönste Pointe dieser Aufnahme: dass sie beweist, wie modern 1957 klingen kann – wenn man sie nicht mit Patina, sondern mit Liebe behandelt. Und mit einem Röhrengerät, das vermutlich auch Raketen starten könnte.


Titel: The Forward Look (Live)

Interpret: Red Norvo Quintet

Erschienen bei: Reference Recordings

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