Sibelius Symphonie Nr. 4
Sibelius’ Vierte – oder: Wie man einen Schneesturm vertont
Man hört ja so allerhand über Sibelius. Meistens Dinge wie »Finnland« oder »Einsamkeit« oder »trinkt gern«. Dass er aber auch ein Komponist war, kommt in solchen Gesprächen mitunter zu kurz. Besonders in diesen düsteren Wintern, in denen es um drei Uhr nachmittags stockfinster wird und man sich fragt, ob das mit der Zivilisation nicht doch eine mäßig durchdachte Idee war, ist seine Musik eine Art ästhetische Notwendigkeit.
Nun also die Vierte. Ein Stück, das klingt, als habe Sibelius eine Woche lang in einem zugefrorenen See meditiert, um dann mit tauben Fingern und existenziellen Zweifeln eine Partitur zu kritzeln. Es ist seine unheimlichste, bedrückendste, nihilistischste Symphonie. Eine sinfonische Schneewüste, in der die einzige Wärme von vereinzelten Holzbläsern kommt, die sich tapfer gegen die Kälte stemmen.
Wer sich nun fragt, welche Aufnahme das ganze Elend am überzeugendsten einfängt, der sei auf Leif Segerstam mit dem Helsinki Philharmonic verwiesen. Segerstam ist ja ohnehin so eine Art nordischer Klangschamane, der sich vor allem für Farben, Texturen und orchestrale Magie interessiert. Und hier zeigt er, wie man eine Sinfonie dirigiert, die sich über weite Strecken weigert, eine richtige Melodie zu haben.
Die ersten Takte allein sind ein Musterbeispiel in orchestraler Tristesse: Streicher flirren wie eiskalte Nebelschwaden, Bläser stehen einsam und verloren herum, und dann kommt das Blech – nicht feierlich, nicht triumphierend, sondern wie eine gesichtslose Drohung. Man denkt an dunkle Wolken, die sich über einer menschenleeren Landschaft zusammenziehen, oder an einen alten Mann, der in einer zugigen Holzhütte sitzt und sich in eine Decke wickelt, weil der Ofen schon lange ausgegangen ist.
Segerstam dirigiert das mit jener gelassenen Konsequenz, die man nur erlangt, wenn man sich innerlich bereits damit abgefunden hat, dass das Leben eine Kette kleiner und mittelgroßer Katastrophen ist. Besonders faszinierend: das Largo. Ein langsamer Satz, in dem die Musik klingt, als versuche sie sich an irgendetwas Hoffnungsvolles zu erinnern, dann aber entmutigt aufgibt. Wenn die Streicher hier ihr Thema spielen – so eine Art klagendes, resigniertes Wimmern – dann ist das so ergreifend, dass man beinahe vergessen könnte, dass man sich freiwillig in diese emotionale Einöde begeben hat.
Und dann das Finale. Es beginnt mit so einer Art resignierter Entschlossenheit, steigert sich zu einem verstörenden Höhepunkt – man stelle sich einen Schneesturm vor, der einen mit letzter Kraft die Haustür erreichen lässt, nur um dann festzustellen, dass der Schlüssel noch auf dem Küchentisch liegt – und endet in einem Schluss, der nicht so sehr verklingt, sondern einfach abbricht. Sibelius hat es wohl als eine Art sinfonisches Schulterzucken gemeint, als würde er sagen: »Nun ja, das war’s dann wohl.«
Alles in allem: eine famose Aufnahme, wenn man in der Stimmung für orchestralen Existenzialismus ist. Wer nach dem Hören dieser Sinfonie Lust auf einen heiteren Operettenabend hat, der sollte sich ernsthafte Fragen zur eigenen emotionalen Robustheit stellen. Und wer nach einer perfekten Einspielung sucht – nun, Segerstam liefert. Nur heißer Kakao und eine dicke Decke sind danach dringend empfohlen.
Komponist: Jean Sibelius
Titel: Sibelius: Complete Symphonies
Dirigent: Leif Segerstam
Orchester: Helsinki Philharmonic Orchestra
Erschienen bei: Ondine