Tchaikovsky Piano Concerto No. 1

Tschaikowsky, Argerich & Abbado – oder: Wie man ein Klavier mit Würde zertrümmert

Es gibt Klavierkonzerte, bei denen man denkt: Ach, das ist doch ganz nett.
Dann gibt es welche, bei denen man denkt: Donnerwetter, da hat aber jemand gut gefrühstückt.
Und dann gibt es Martha Argerich spielt Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 mit Claudio Abbado und den Berliner Philharmonikern, und man denkt: Ist das noch Musik – oder hat sich das Klavier in einen Vulkan verwandelt und das Orchester in eine Lawine aus Gold, Glut und Glissandi?

Es ist, in aller gebotenen Zurückhaltung, eine der besten Aufnahmen dieses Stücks – wenn nicht die beste. Und das sagt man ja oft leichtfertig. Aber diesmal: mit Substanz, mit Tremolo und mit der unerschütterlichen Gewissheit, dass hier einfach alles zusammenkommt.

Aber von Anfang an.

Die Geschichte ist so schön, dass sie fast frei erfunden sein könnte: Martha Argerich, bekannt für ihre stupende Technik, ihre exzentrischen Auftrittsgewohnheiten und ihre fast schon rührende Abneigung gegen das Alleinsein auf der Bühne, hatte irgendwann beschlossen, keine Solorezitals mehr zu geben. Zu einsam. Zu ausgesetzt. Zu viel Musik ohne Mitspieler.
Was macht man als Pianistin von Weltruf, wenn man nicht mehr allein spielen will? Man spielt Konzerte. Mit Orchester. Mit Wucht. Mit Leuten.

Und wenn man schon mit Leuten spielt, dann bitte mit Abbado. Und mit der Berliner Philharmonie als Backing-Band. Diese Aufnahme, entstanden 1995 für Deutsche Grammophon, ist der Beweis dafür, dass man Tschaikowskys Schlachtrösser mit dramatischem Sinn und musikalischer Präzision zugleich reiten kann – und dabei aussehen wie eine wilde Königin im Zen-Modus.

Zur Musik:

Das Tschaikowsky-Konzert Nr. 1 ist ja ohnehin kein Kind von Traurigkeit. Schon die ersten Takte – dieser epische Hornruf über donnernden Klavierakkorden – sagen einem: Hier geht’s nicht um Kammermusik, hier wird galoppiert. Und Argerich galoppiert mit – aber mit der Eleganz einer Hochspringerin in Abendgarderobe. Jeder Ton sitzt. Jedes Crescendo hat Richtung. Und jede noch so waghalsige Passage wird mit einer Leichtigkeit gespielt, die einen gleichzeitig demütig und euphorisch macht.

Wer vorher nur ihre live eingespielte Aufnahme mit Kondraschin kannte – legendär, wild, temperamentvoll wie ein balletttanzender Orkan – wird hier überrascht: Die Energie ist geblieben, aber die Kontrolle hat sich dazugesellt. Keine Aussetzer, keine auf dem Flügel ausgerutschten Oktavketten, sondern eine durchdachte, durchfühlte, durchgespielte Version – und das auf allerhöchstem Niveau.

Und dann: das Orchester.

Ach, diese Berliner Philharmoniker der 90er-Jahre. Klangfarben wie frisch lackiert. Bläser, die Schmelz und Schärfe in gleicher Dosierung servieren. Und unter Abbado eine Flexibilität, als wären sie nicht 100 Musiker, sondern ein einziger atmender Organismus.
Man merkt, dass Abbado Argerich liebt. Nicht nur musikalisch. Es gibt Raum, es gibt Spannung, es gibt Momente, in denen die Berliner klingen, als würden sie ihr Instrument nicht spielen, sondern sich in es hineinlegen.

Bonusmaterial: Nussknacker mit beiden Händen

Als wäre dieses Hörerlebnis nicht genug, bekommt man in dieser Einspielung auch noch Argerichs Zweihand-Version der Nussknacker-Suite dazu. Ja, richtig gelesen. Keine vierhändige Familienversion mit Keksen und Neujahrsstimmung – sondern Martha allein am Flügel, mit Tschaikowskys Zuckerbäckerwelt im Gepäck.
Und siehe da: Es wird kein bisschen klebrig. Es ist zart, tänzerisch, durchsichtig. Fast schon ironisch. Als würde Argerich sagen: „Ja, ich kann auch süß. Aber mit Haltung.“

Fazit:

Diese Aufnahme ist ein Monument. Und gleichzeitig eine Momentaufnahme, wie sie nur entsteht, wenn alles stimmt: Solistin, Dirigent, Orchester, Repertoire, Mikrofone, Mondphase.

Wer nur eine Aufnahme des Tschaikowsky-Konzerts besitzen möchte (was schon ein bisschen verdächtig wäre), sollte bitte diese nehmen.
Wer viele besitzt – und diese nicht hat – sollte sie schleunigst ergänzen. Und sich danach still freuen. Oder weinen. Oder tanzen. Oder sich einfach eine gute Anlage gönnen.


Komponist: Pyotr Illitch Tchaïkovski 

Titel: Piano Concerto No. 1; The Nutcracker Suite

Solist: Martha Agerich

Dirigent: Claudio Abbado

Orchester: Berliner Philharmoniker

Erschienen bei: Deutsche Grammophon


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