Akustische Utopie, Teil 1
Foto: Morgunblaðið / Árni Sæberg
Akustische Utopien – Orte, an denen ich gerne Musik hören würde (Teil 1)
Eine lose Kolumne voller klanglicher Tagträume.
Manche Menschen machen Listen von Ländern, die sie noch bereisen wollen. Andere sammeln Michelin-Sterne, Altbauwohnungen oder Flugmeilen. Ich dagegen notiere mir Orte, an denen ich gerne Musik hören würde – nicht weil es besonders praktisch wäre, sondern weil es ein schöner Gedanke ist. Diese kleine Kolumne ist keine Einladung zur Nachahmung (außer Sie sind besonders schwindelfrei), sondern ein Gedankenspiel. Ein Flirt mit dem Absurden. Eine akustische Utopie.
Beginnen wir mit einem Leuchtturm. Aber nicht irgendeinem.
Musik im Wahnsinn des Windes – Ein akustischer Sehnsuchtsort namens Þrídrangaviti
Wenn es jemals einen Ort gab, an dem Musik nicht einfach nur klingt, sondern sich wie eine windgepeitschte Offenbarung über das Dasein legt, dann ist es dieser: Þrídrangaviti. Der Name klingt, als hätte ein altnordischer Gott in einen Brotteig geniest – dabei verbirgt sich dahinter nichts Geringeres als der womöglich abgelegenste Leuchtturm der Welt.
Er thront auf einem basaltenen Zinken, der so unzugänglich ist, dass man ihn nicht einmal betreten kann, ohne sich zuvor in Demut ein Seil um den Leib zu knoten – oder, wie es seit ein paar Jahren für die zart Besaiteten möglich ist, per Hubschrauber auf einem spartanischen Landeplatz abzutauchen, der aussieht, als hätte ihn ein besonders minimalistischer Zen-Mönch in den Fels geritzt.
Þrídrangaviti, was so viel wie „Drei-Felsen-Leuchtturm“ bedeutet (weil er auf einem dieser drei Felsen sitzt, die aussehen, als hätte sie ein betrunkener Riese beim Domino verloren), wurde 1939 erbaut. Von Menschen. Mit Händen. In einem Jahrhundert, das eher für Panzer als für Leuchttürme in der nördlichen Einöde bekannt war. Dass die Arbeiter, die diesen Turm erbauten, nicht einfach nach der ersten Bauwoche „Ach, wisst ihr was?“ sagten und sich wieder abseilten, ist allein ein Wunder. Sie kletterten, schliefen in Zelten (!) auf diesem Felsen und schafften Material hinauf, das dort so deplatziert wirkt wie ein Steinway-Flügel in einem Leuchtturmwärterhäuschen.
Und doch: Wenn ich mir einen Ort vorstellen darf, an dem Musik nicht über Lautsprecher kommt, sondern wie eine metaphysische Erscheinung aus dem Fels selbst wächst – dann ist es genau hier. Stellen Sie sich bitte einmal vor, wie auf diesem gottverlassenen Zacken im Nordatlantik Mahler IV erklingt. Oder die Vokalpolyphonie von Arvo Pärt, während Ihnen der Wind die Gedanken aus der Stirn bläst.
Þrídrangaviti ist kein Ort für die Spotify-Playlists mit Titeln wie „Chill & Grill“. Es ist ein Ort für Klang als existenzielle Kategorie. Für Musik, die Fragen stellt, auf die man keine Antworten möchte. Für Musik, die nicht begleitet, sondern behelligt.
Vielleicht ist es ja das, was uns im Herzen audiophil macht: nicht die Lust an besserem Klang, sondern der stille Wahnsinn, ihn dorthin tragen zu wollen, wo niemand sonst ihn hört. Auf eine Insel. Auf einen Felsen. In einen Leuchtturm, der mehr mit Philosophie zu tun hat als mit Schifffahrt.
Musik dort zu hören – oder auch nur daran zu denken – fühlt sich an wie ein inneres Pendel, das langsam, aber unaufhaltsam in Richtung Bedeutung ausschlägt. Ich sehe mich dort sitzen, allein, mit einem Glas Whisky, einem batteriebetriebenen DAC (nur hypothetisch, keine Sorge), und einem Kopfhörer, der die salzige Luft ignoriert, aber die Musik in meinem Innersten vibrieren lässt.
Einmal dort Musik hören – das wäre, so stelle ich es mir vor, der feierlichste Moment meines audiophilen Lebens. Kein Publikum, kein Applaus. Nur Wind, Meer, Basalt – und Bruckner.
Weitere Orte folgen – nicht chronologisch, aber mit viel Liebe.