Vivaldi »Le quattro stagioni«
Es gibt Platten, die sind wie in Schokolade getauchte Erdbeeren: elegant, geschmeidig, mit einer angenehmen Oberflächenpolitur. Dann gibt es Platten, die sind wie ein Blauschimmelkäse aus einer Bauernhofkäserei, der mit einem rostigen Messer geschnitten wurde: roh, herausfordernd und von eigenartiger Wucht. Nikolas Harnoncourts Aufnahme von Vivaldis Vier Jahreszeiten ist, um bei diesem Bild zu bleiben, ein Käse mit Charakter, ein handwerklich beeindruckendes, aber zuweilen irritierendes Erlebnis.
Es war das Jahr 1977, als Harnoncourt mit dem Concentus Musicus Wien und seiner Frau Alice Harnoncourt als Solistin loszog, um Vivaldis allgegenwärtigstes Werk gründlich zu entstauben – oder vielmehr, um es durch eine Windmaschine voller Sand zu jagen. Wer bis dato nur die samtigen Interpretationen von Karajan oder Marriner kannte, dürfte beim ersten Hören das Gefühl haben, in eine musikalische Version des Films Mad Max geraten zu sein.
Was macht diese Aufnahme so bemerkenswert? Nun, es ist nicht einfach nur ein Fall von „historischer Aufführungspraxis“, wie sie von der Alte-Musik-Bewegung mit missionarischem Eifer gepredigt wurde. Nein, Harnoncourt geht noch einen Schritt weiter: Er spielt die Vier Jahreszeiten, als sei er wütend auf das Wetter. Frühling klingt nicht nach sanft knospenden Blüten, sondern nach einer rüpelhaften Explosion der Natur, in der die Vögel nicht zwitschern, sondern sich in einer Art Barock-Punk-Orgie gegenseitig ankreischen. Der Sommer – üblicherweise eine gedämpft-brütende Hitzeepisode mit gelegentlichem Donnergrollen – wird hier zu einer Art musikalischer Klimakatastrophe, bei der man sich unwillkürlich fragt, ob das Orchester nach der Aufnahme vom Winde verweht wurde. Der Herbst: keine goldenen Felder, sondern ein ungestümer Rausch, als hätte man zu viel Federweißer getrunken und beschlossen, auf einer Tenne ekstatisch herumzutoben. Und der Winter? Nun, der Winter ist schlichtweg existenziell bedrohlich. Hier klingt es nicht so, als würde jemand sanft über das Eis schlittern – vielmehr hört man, wie sich jemand verzweifelt an eine zugefrorene Fensterscheibe klammert, während der Wind mit fieser Gleichgültigkeit um die Ohren pfeift.
Warum also sollte man sich das anhören? Weil es großartig ist! Weil es nach echter Entdeckung klingt! Weil Harnoncourt und seine Mitstreiter das tun, was allzu viele Interpretationen nicht wagen: Sie lesen Vivaldis Sonette nicht einfach nur als hübsche Illustrationen, sondern nehmen sie als ernsthafte Handlungsanweisung für eine radikale musikalische Gestaltung. Die Stürme stürmen hier wirklich, das Bibbern in der Kälte klingt nicht nur nach einer technischen Etüde für stotternde Bogenschläge, sondern nach echtem Frieren.
Freilich, es gibt Menschen, die die Vier Jahreszeiten lieber in einer Version hören, die den Rotwein nicht erschüttert, wenn man abends entspannt im Ledersessel sitzt. Wer es süffig und süßlich braucht, dem seien perlmuttern glänzende Versionen aus italienischer Manufaktur empfohlen. Aber für alle, die sich trauen, den Vier Jahreszeiten einmal in der wohl schroffsten, leidenschaftlichsten und am wenigsten nach Balsamöl duftenden Variante zu begegnen, ist diese Aufnahme ein Muss.
Ob man nach dem Hören tatsächlich noch einmal zurückkehren möchte zu den zahmeren Varianten? Das bleibt eine Frage des Geschmacks. Aber eines ist sicher: Wer Harnoncourts Vier Jahreszeiten gehört hat, wird das Stück nie wieder als bloße Hintergrundmusik für Fahrstühle oder Hotellobbys wahrnehmen können. Und allein dafür hat sich das Abenteuer schon gelohnt.
Komponist: Antonio Vivaldi
Titel: Le quattro stagioni
Dirigent: Nikolaus Harnoncourt
Orchester: Concentus Musicus Wien
Erschienen bei: Warner Classics